Franz Theremin

(1780-1846)

Über Massillon

„Doch darf ich nicht länger zögern, Ihnen den Redner zu nennen, den ich schon seit langer Zeit gelesen hatte, den ich jetzt immer fleißiger las, und dem ich in der geistlichen Beredsamkeit, wie dem Demosthenes in der politischen, die Meisterschaft zuerkannte. Doch nein, ich will ihn nicht nennen; Sie sollen ihn erraten. Ist es ein Deutscher? Ach nein! Ist es ein Engländer? Nein! Also ein Franzose. Vielleicht der Reformierte Saurin? Bewahre! Also ein Katholik? Vielleicht Bossuet? Der ist groß als Leichenredner; aber wenn seine Predigten nicht besser waren als die Entwürfe, die man jetzt davon besitzt, so sind sie ein ziemlich unerbauliches Geschwätz gewesen. Vielleicht Bourdaloue? Ein grundredlicher Mann, und ein trefflicher Prediger, der aber immer belehrend spricht, und dessen Donner selbst noch didaktisch sind. Nun bleibt freilich nur noch einer übrig, der Ihnen, wenn Sie ein Franzose sind, nicht entgehen kann – es ist Massillon! Ich sage, wenn Sie ein Franzose sind. Denn sind Sie ein Deutscher, so werden Sie kaum auf ihn fallen. Man kennt ihn nicht in Deutschland; man führt höchstens seine Synodal- und Konferenzpredigten an, die doch nicht das Beste von ihm sind, und die sogenannten kleinen Fasten-Predigten, die er vor dem minderjährigen Ludwig XV. gehalten hat, und die nur als eine Ausartung seiner Beredsamkeit angeführt werden sollten. Aber die anderen wahrhaft großen Fastenpredigten, die herrlichen Adventspredigten – von denen weiß niemand etwas in Deutschland, wenigstens in unserer evangelischen Kirche. Vielleicht, weil er Katholik ist? Aber darum sind wir ja evangelisch, um alles Treffliche, wo es auch gefunden werden mag, schätzen zu können. Ach, daß man in Deutschland durchaus keinen Sinn hat für so Manches, das mir unbeschreiblich teuer ist; und daß auch ich für so Manches, das man in Deutschland unbeschreiblich hoch stellt, durchaus keinen Sinn haben kann!

Und worin besteht denn nun, nach meinem Urteil, Massillons eigentümliche rhetorische Größe? Darin, daß er immer die Predigt als einen Kampf begreift, und daß er diesen Kampf mit den trefflichsten Waffen, mit ebenso großer Kraft als Geschicklichkeit führt. Dieser Begriff ist sehr unrichtig, werden, nicht Sie, aber deutsche Homileten einwenden; denn die Predigt ist nichts anderes als eine Darstellung des religiösen Bewußtseins der Gemein[d]e, zu ihrer Erweckung und zu ihrem Genuß. Zum Genuß ? Ich frage Sie, wann haben wir beide wohl Genuß bei einer Predigt gefunden, als wenn der Redner uns niedergeworfen, zerschmettert, verwundet, und dann wieder geheilt, erhoben und aufgerichtet hatte? Und kann er das anders vollbringen, als indem er mit uns kämpft? Wer mir einen anderen Genuß und auf eine andere Weise bereiten will, dessen Predigten sind wenigstens für mich ungenießbar.

Kaum hat Massillon zu reden angefangen, so verläßt er auch die lehrende Stellung; denn er entwickelt nicht eine Wahrheit, er zeigt nicht die Anwendung eines Gebotes, sondern er forscht lieber nach den Hindernissen, welche der Annahme dieser Wahrheit, der Befolgung dieses Gebotes im Wege stehen. Er findet sie in dem Verderben der Menschen, in ihren Leidenschaften, in den unzähligen bewußten Täuschungen, in den Scheingründen, welche sie sich bilden; und wodurch sie sich selber belügen und hintergehn. O, wie müssen ihm hier die Herzen ihre verborgensten Geheimnisse kundgeben! Mit welcher sichern, schonungslosen Hand wühlt er in den Eingeweiden des Menschen! Wie weiß er ihn zu treiben, zu stacheln, Furcht, Mitleid, Schrecken und Entsetzen in ihm zu erregen! Und dabei ist er keineswegs hart; er ist zartfühlend, ja er ist weich; all die unglückseligen Schwächen des menschlichen Herzens, er kennt sie nur deshalb so gut, weil er sie in seinem eigenen Herzen findet, oder gefunden hat, und dessen scheint er sich immer bewußt zu sein. Bald möchte man durch dieses Bohren und Andringen außer sich geraten; bald muß man vor dieser hinrollenden und zermalmenden Kraft sich beugen; bald muß man vor dieser schmelzenden Milde und Zärtlichkeit selbst in Rührung zerschmelzen. Glaubt nicht, wenn er so steht und redet, daß es irgend etwas gebe auf Erden, das ihm Furcht einflössen könnte. Er redet vor Königen vor Fürsten, vor den Großen der Welt; aber eben weil er vor solchen redet, so ist es auch ihr Verderben und die Tiefe desselben, die er ihnen enthüllt. Er dringt auf sie ein; er donnert sie an; der Boden bebt unter ihnen; und sein Auditorium in der Kapelle zu Versailles wird aus seinen Sitzen gehoben und emporgeschleudert durch die Schrecken des Gerichtes. Er ist nur das Mitglied einer Kongregation, nur ein einfacher Priester des Oratoriums; noch haben keine hohen geistlichen Würden ihn in die Welt und in den Umgang mit ihren Großen eingeführt. Aber wenn die Großen des damaligen französischen Hofes auch durch die Reize der feinsten Bildung groß waren; wenn ihre schöne Sprache mit unwiderstehlicher Anmut von ihren Lippen floß, so sind dies Eigenschaften, in denen der Priester des Oratoriums ihnen gleich steht, oder sie überbietet; und in dem Manne, der ihnen die Geheimisse der unsichtbaren Welt enthüllt, müssen sie die Vorzüge ihrer eigenen Welt, auf die er selbst übrigen keinen Wert zu legen scheint, bewundern. Ach! Daß er – was er als Katholik sein mußte – größtenteils ein Gesetzesprediger ist! Daß der Stellen so wenige sind, wo er mit der Innigkeit seines tiefen, frommen Gefühls von der Gnade in Christo spricht! Hätte er immer das süße Evangelium von der Gnade in Christo gepredigt, hätte er die Liebe auf den Glauben gegründet, so hätte ihm wenig oder nichts zur Vollkommenheit gefehlt.

Bitte diesen Brief sorgfältig unter Verschluß zu halten; er könnte bei manchem meiner Amtsbrüder mir Schaden tun. Ihr Urteil fürchte ich nicht; Sie werden, wenn auch sonst keiner, mit mir übereinstimmen.“

Leicht modernisierte Fassung des Texts, zitiert nach: Franz Theremin, Abendstunden, Berlin, Duncker und Humblot, 1852, pp. 301-304

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